![]() S a a r b r ü c k e r B i b l i o t h e k (http://www.jura.uni-sb.de/projekte/Bibliothek) | Erstveröffentlichung: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1155 - 1182 |
Wolfgang Knies
Auf dem Weg in den "verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat"?Das Bundesverfassungsgericht und die gewaltenteilende Kompetenzordnung des GrundgesetzesKritik am Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal Konjunktur. Das ist für das Gericht allerdings keine neue Erfahrung. Denn seine Spruchpraxis hat immer wieder nicht nur Respekt und Beifall gefunden, sondern auch heftige Urt eils- und Richterschelte ausgelöst. Schon 1952 machte Thomas Dehler, der erste Bundesjustizminister, damit den Anfang. Seine schlimme Entgleisung is t dem Zeitgenossen noch in guter - oder unguter - Erinnerung: Das Bundesverfassu ngsgericht sei in einer erschütternden Weise von dem Wege des Rechts abgewi chen und habe dadurch eine ernste Krise geschaffen. Anlässe und Gründe zur Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsger
icht gab es immer wieder. Derzeit liefert sie vor allem dessen Erster Senat. Mehr noch als das höchst polyphone und keineswegs harmonische Konzert von kritischen und antikritischen Stimmen zur jüngsten Rechtsprechung eines Senats des Bundesverfassungsgerichts hätte allerdings ein Satz aufhorchen lassen müssen, der schon vor sieben Jahren - zum 40. Geburtstag des Grundgesetzes - gesprochen und geschrieben worden ist. "Es vollzieht sich "- heißt es da - "ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat. Der Satz stammt von
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Seine Feststellung müßte alarmieren und beunruhigen. Sie ist das Erge bnis einer Diagnose der staatsrechtlichen Lage, und sie ist zugleich ein verfass ungspolitischer Warnruf. Ist die Diagnose richtig, dann besteht in der Tat aller Anlaß zu Sorge. Denn dann ginge es nicht um einen einmaligen Fehlgriff, um einzelne Übergriffe des Bundesverfassungsgerichts in fremde Kompetenz; es ginge nicht mehr nur um eine bloße Akzentverschiebung, sondern um eine er hebliche und dauerhafte Gewichtsverlagerung im Verhältnis von parlamentaris chem Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, um eine fundamentale Verände rung der grundgesetzlich fixierten Gewaltenbalance also. Der Nerv der Staatsstru ktur der Bundesrepublik Deutschland wäre berührt.
Aber ist das nicht alles nur die ewige Wiederkehr des Gleichen? So wird man einw
enden und fragen. Man wird daran erinnern, daß auch unter der Weimarer Ver
fassung vor einer "hemmungslosen Expansion der Justiz" zu Lasten des d
emokratischen Gesetzgebers gewarnt worden ist. In der Tat ist die Frage nach den Grenzen der Verfasssngsgerichtsbarkeit
mit der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu zwillingshaft versch
wistert. Über Verfassungsgerichtsbarkeit reden heißt immer auch: &uum
l;ber ihre Grenzen reden. Das liegt in der Natur ihrer Rechtsprechungsaufgabe be
gründet: Die verfassungsgerichtliche Jurisdiktion über Akte der Tr&aum
l;ger der drei Staatsfunktionen ist notwendig ein Eingriff in deren Kompetenzber
eich und daher ein Problem der gewaltenteilenden Ordnung der Verfassung. Wo und
wann immer die Frage nach Stellung und Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit a
ufgeworfen wird - ob in den Verfahren der Verfassunggebung und der Gesetzgebung,
ob bei der verfassungsrichterlichen Spruchtätigkeit, ob in der rechtswisse
nschaftlichen Diskussion oder in der politischen Auseinandersetzung -, immer und
immer wieder bricht dann sogleich die Frage nach den sachlichen und funktionell
en Grenzen
So notwendig eine kurze Erinnerung an diese Grund- und "Ewigkeits"prob
leme einer jeden Verfassungsgerichtsbarkeit ist - diese Skizze will sich nicht i
n deren Memorieren und Repetieren erschöpfen. Sonst bliebe es bei weitgehen
d abstrakten, weil verfassungstheoretischen Aussagen zu unserem Problem. Es soll
uns hier aber vor allem um die Frage gehen, ob sich in der Rechtsprechung des B
undesverfassungsgerichts greifbare und benennbare Entwicklungen feststell
en lassen, die zu einer Veränderung der grundgesetzlich normierten K
räfteverhältnisse bei und unter den gewaltenteilig organisierten Tr&au
ml;gern der Staatsgewalt geführt haben.Dazu ist es nötig, daß wi
r zunächst einige verfassungsrechtliche Ausgangs-und Eckpunkte in der Geome
trie dieser Kräfteverhältnisse fixieren. Wir haben dabei vom Grundgese
tz, also von dem geltenden Verfassungsrecht, auszugehen und nicht von irg
endwelchen Vorstellungen einer wünschbaren, besseren oder gar "idealen
" Verfassung.Erstens: Das Grundgesetz hat sich dafür entschiede
n, das letztverbindliche Wort über die Verfassungsmäßigkeit staa
tlicher Akte nicht einer politischen Instanz, sondern einem unabhängigen Ge
richt, eben dem Bundesverfassungsgericht, zu übertragen. Nach den Erfahrung
en der jüngsten Vergangenheit glaubte der Verfassunggeber von 1949 gute Gr&
uuml;nde für diese Entscheidung zu haben. Zweitens: Das Grundgesetz hat das Bundesverfassungsgericht mit einer unvergleichlichen Fülle von Kompetenzen ausgestattet. Weder in der deutschen Verfassungsgeschichte noch bei einem Vergleich mit dem Ausland stößt man auf einen gerichtlichen Schutz der Verfassung von gleichem Umfang und gleicher Intensität Und dennoch: Die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts sind nicht grenzenlos. Es hat keine Allzuständigkeit zum gerichtlichen Schutz der Verfassung. Dort und nur dort, wo ihm das Grundgesetz eine Zuständigkeit eröffnet,
Drittens: Auch im Rahmen seiner weiten, wenn auch bemessenen Zuständigkeiten ist das Bundesverfassungsgericht in der Aufnahme seiner verfassungschützenden Aufgaben von fremder Initiative abhängig: Es kann nur auf Antrag und nicht von Amts wegen tätig werden,
Angesichts dieser doppelten Beschränkung seiner Befugnisse erscheint es mir wenig glücklich, das Bundesverfassungsgericht als den "Hüter der Verfassung" zu bezeichnen. Der Begriff ist unter der Weimarer Verfassung vor allem auf den Reichspräsidenten gemünzt worden. Das Wort und das Bild vom Bundesverfassungsgericht als dem "Hü ter der Verfassung" stehen in der Gefahr, eine falsche Vorstellung von eine r Allein- und Allzuständigkeit zum Schutze der Verfassung zu suggeri eren. Nach der grundgesetzlichen Ordnung seiner Zuständigkeiten und Befugni sse ist das Bundesverfassungsgericht aber nicht der Garant für die durchgeh ende Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns. Die Verfassung kö ;nnte total ausgehebelt werden, ohne daß das Bundesverfassungsgericht auch nur das Geringste dagegen unternehmen könnte, wenn und weil seine Verfa ssungsschutz-Funktion nicht durch einen Antrag aktiviert wurde.
Das ist glücklicherweise - so wollen wir jedenfalls hoffen - nur ein theore
tischer Extremfall. Praktisch wichtig ist dagegen die Überlegung, daß
das Grundgesetz keine Verfassungsgerichtsbarkeit installiert hat, welche die Ve
rfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns ausnahmslos sichert. Das Grun
dgesetz nimmt esbeispielsweise hin, daß das verfassungswidrige Gesetz fakt
isch in Geltung bleibt, wenn und weil eine abstrakte Normenkontrolle von keinem
der nur drei tauglichen Antragsteller Das heißt aber auch umgekehrt, daß der Gesetzgeber sich von dem Erns t und der Strenge seiner Bindung an die "verfassungsmäßige Ordnu ng" (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht dadurch entlastet fühlen darf, daß er sich auf Existenz und Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit verlä& szlig;t, etwa nach dem Motto: "Im Falle eines Falles - Karlsruhe richtet al les". Für die durchgehende Herrschaft der Verfassung baut das Grundges etz zuerst und vor allem und unabhängig von aller Verfassungsgerichtsbarkei t auf die Bindung aller Staatsgewalt an die Verfassung und auf deren Willen zur Verfassung. Da darf es kein befreites "pecca fortiter" im beruhigenden Vertrauen auf Karlsruhe geben. Von diesen Ausgangspunkten her ergeben sich zunächst zwei allgemeine Konseq uenzen für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Zunächst: Weil die Zuständigkeiten des Gerichts einerseits sehr weitreichend, andererseits aber prinzipiell bemessen und begrenzt sind, besteht kein Anlaß, diese Kompetenzen ausweitend zu praktizieren. Es ist vielmehr geboten, daß das Bundesverfassungsgericht von seinen vielfältigen un d ausgreifenden Kompetenzen einen zurückhaltenden Gebrauch macht. Dies muß umso mehr gelten - und dies ist der zweite Gesichtspunkt -, als die Rechtsprechung des Gerichts immer und notwendig (und verfassungsrechtlich legitim) in die Kompetenzausübung anderer Träger der Staatsgewalt eingreift. Auch wer in diesem Eingreifen und Einwirken keine eigentliche "Durchbrechung" des Prinzips der Gewaltenteilung sehen will, sondern die Realisierung des mit diesem Prinzip von vornherein einhergehenden Gedankens der Machtverteilung, der gegenseitigen Kontrolle und Mäßigung der Gewalten - auch er wird einer Ausdehnung und Überschreitung der konkreten verfassungsr echtlichen Zuständigkeitsabgrenzung nicht das Wort reden können und d& uuml;rfen. Denn eine jede Überschreitung dieser Grenzen bedeutet Einmarsch in fremdes Hoheitsgebiet, Zugriff auf fremde Kompetenz. Fragen der Zulässigkeit haben im verfassungsgerichtlichen Verfahren also ei n ganz anderes Gewicht als Zulässigkeitsprobleme z.B. im Zivilprozeß. Im Verfassungsprozeß sind Zulässigkeitsprobleme regelmäßi g (oder jedenfalls häufig) zugleich Gewaltenteilungsprobleme. Übergang ene Zulässigkeitsfragen werden dann zu verfassungsrechtlichen Grenzübe rschreitungen.
1. Das deutet sich schon dort an, wo das Bundesverfassungsgericht Anträge und Vorlagebeschlüsse als offensichtlich unbegründet a limine (nach § 24 BVerfGG) verwirft, ohne zuvor über deren Zulässigkeit entschieden zu haben. Das ist ständige Praxis des Gerichts, 2. Schwerer wiegend und weiter ausgreifend ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dort, wo sie die Dispositionsbefugnis des Antragstellers wesentlich verkürzt. Das geschieht insbesondere beim Verfahren der abstrakten Normenkontrolle. Nach der Antragstellung soll es mit der Dispositionsbefugnis des Antragstellers
nämlich ein Ende haben. Sie soll abgelöst sein durch die Verfahrensher
rschaft des Gerichts; statt der Dispositionsmaxime soll nun das Offizialprinzip
herrschen: Sei das Verfahren durch den Antrag einmal in Gang gesetzt, so sei es
fortan der Verfügung des Antragstellers entzogen. Ausschließlich Gesi
chtspunkte des öffentlichen Interesses bestimmten dann seinen weiteren Verl
auf. Ergo führe die Rücknahme des Antrags nicht notwendig zur Einstell
ung des Verfahrens. Das judiziert und praktiziert das Bundesverfassungsgericht seit über 40 Jahren. Das Grundgesetz hat drei, nur drei, aber drei politisch gewichtige Antragsteller
für die abstrakte Normenkontrolle vorgesehen: die Bundesregierung, eine La
ndesregierung und ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Hinter dieser Eing
renzung steckt nicht nur und nicht einmal in erster Linie der Gedanke, das Bunde
sverfassungsgericht vor einer Antragsflut zu bewahren. Das Antragsrecht dient ni
cht dem Rechtsschutz der Antragsteller. Mit ihm ist vielmehr die Frage entschied
en, wem das Grundgesetz die aktive Rolle eines Wächters der Verfassung und
damit des Gesamtwohls politisch zutraut und verfassungsrechtlich zumutet.
Wir gehen einen Schritt weiter und werfen dabei doch noch einmal einen Blick auf
die abstrakte Normenkontrolle. Für sie hat das Bundesverfassungsgericht ei
ne Erweiterung des Kreises der Antragsberechtigten im Wege der Auslegung stricti
ssime abgelehnt,
Eben diese Grenzüberschreitung, die das Gericht für die abstrakte Normenkontrolle mit Recht verpönt, hat das Gericht bei der Organstreitigkeit (Art. 93 Abs. i Nr. i GG) begangen, indem es die politischen Parteien als Antragsteller zuließ. Daran hatte zuvor niemand gedacht - weder bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat Die Auswirkungen dieses Vorgangs konnten nicht auf das Verfassungsprozeßrecht beschränkt bleiben. Wenn den politischen Parteien vom Verfassungsgericht nicht nur bescheinigt wird, sie seien integrierende Bestandteile des "Verfassungsaufbaus" [?] und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens, sondern wenn ihnen weiterhin attestiert wird, daß sie "Funktionen eines Verfassungsorgans ausüben",
Aber auch die verfassungsprozessualen Konsequenzen der Zuerkennung der Parteif&a
uml;higkeit an politische Parteien im Organstreit sind damit noch nicht zu Ende.
Durch die Betonung des verfassungsgebotenen Charakters der politischen Parteien
als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gru
ppen" hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Parteie
nfinanzierungs-Urteil behutsam, aber deutlich von der Parteienstaat-Doktrin Leib
holzscher Prägung distanziert. Für die Frage, ob sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner ihm du
rch Verfassung und Gesetz gezogenen Kompetenzgrenzen hält, liefert der Them
enkreis Einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) und Vollstreckungsanordnung (
§ 35 BVerfGG) weiteres Anschauungsmaterial und zahlreiche Fragen.Hier w&aum
l;re insbesondere der Frage nachzugehen, ob einstweilige Anordnung und Vollstrec
kungsanordnung auch dort möglich sind, wo das (Hauptsache-)Verfahren mit ei
ner bloßen Feststellungsentscheidung endet. Das Bundesverfassungsge
richt bejaht dies ohne Einschränkung.
Diese mit großem Bedacht gezogene Grenze würde das Gericht aber mit e
iner einstweiligen Anordnung oder einer Vollzugsanordnung durchbrechen. Denn die
Entscheidung in der Hauptsache beschränkt sich auf eine pure verfassungsre
chtliche Feststellung, die der Vollstreckung weder fähig noch bed&uu
ml;rftig ist . Ihr Erlaß bedarf daher auch nicht der Sicherung durch einst
weilige Anordnung. Diese würde zudem mehr und anderes gewähren,
als die Hauptsache-Entscheidung gewähren kann. Es muß mit diesen Andeutungen hier sein Bewenden haben. Sie genügen a ber, um uns noch einmal vor Augen zu führen, daß es bei den prozessua len Fragen im Verfassungsprozeß um alles andere als "formale" Ne bensächlichkeiten und Zweitrangiges geht. Oft wird der Kern des verfassungs rechtlichen und des ihm zugrundeliegenden politischen Streits bereits in der Zul ässigkeitsfrage enthalten sein.
Das Bundesverfassungsgericht tut deshalb gut daran, die Zulässigkeitsfrage
ernst zu nehmen. Dies nicht nur aus dem Grunde, um sich der Grenzen seiner Juris
diktionskompetenz bewußt zu bleiben, sondern auch deshalb, um sich gegen Z
umutungen der Politik zur Wehr zu setzen. So hätte das Gericht beispielswei
se den Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion im AWACS-Streit, Eine besonders schwer wiegende Verlagerung der Gewichte im grundgesetzlich ausba lancierten System der geteilten Staatsgewalt hat sich im Gefolge der Rechtsprech ung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten vollzogen - zu Lasten des parlamentarischen Gesetzgebers, auf Kosten aber auch der Justiz. Das ist nicht - wie viele meinen - erst in den letzten Jahren durch einige Entsc heidungen des Ersten Senats oder einer seiner Kammern geschehen. Die entscheiden den Weichenstellungen liegen viel früher. Sie lassen sich mit drei Jahresza hlen zeitlich markieren: 1951, 1957 und 1958.
1951 war das Jahr, in dem der Bundestag die entscheidende Gewichtsverlage
rung selbst vorgenommen hat. In diesem Jahr wurde das Gesetz über das Bunde
sverfassungsgericht Es setzten sich aber die Anhänger einer allumfassenden Grundrechtsbeschwerde durch. Sie fanden sich in Regierung und Parlament. Besondere Durchschlagskraft
hatte offenbar das Argument, die Verfassungsbeschwerde könne am ehesten das Zusammenwachsen von Volk und Verfassung herbeiführen und das demokratische Bewußtsein des Staatsbürgers stärken. Vertraut hat man vor allem auch der Erklärung, nach
den Erfahrungen in Bayern sei mit einer Überlastung des Bundesverfassungsgerichts durch unbegründete Verfassungsbeschwerden nicht zu rechnen. Gewiß: Ohne sie wären die Richte
r in der Flut längst untergegangen. Daß bei dieser Lage aber auch unt
er wohlmeinenden Beobachtern immer wieder einmal die Frage aufkommt, aufkommen m
uß, wer denn da eigentlich wem die Hand führe, braucht
nicht zu verwundern - auch den nicht, der geneigt ist, Mitteilungen über di
rekte Kontakte der Mitarbeiter mit Gerichten und über versuchte Einflu&szli
g;nahmen auf die Entscheidung der Gerichte in dort anhängigen Verfahren
Die Grundrechtsjudikatur ist - absichtsvoll und erfolgreich - weitgehend aus den
Senaten in die Kammern verlagert worden. Wie auch immer man diese Entwicklung beurteilen mag: Das ist jedenfalls nicht me hr das Bundesverfassungsgericht, das der Parlamentarische Rat vor Augen hatte. D ie Einführung der Verfassungsbeschwerde durch den verfassungsrechtlichen Spalt des Art. 93 Abs. 2 GG war mehr und anderes als nur die Verlängerung der Kette der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts um ein weiteres Glied.
Das Jahr 1957 brachte das "Elfes" - oder "Paß" -Urteil Zunächst deutete das Bundesverfassungsgericht die "freie Persönlichkeitsentfaltung" des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit: "Jeder kann tun und lassen, was er will." heißt die neue
Lesart. Es war der zuletzt viel gescholtene Verfassungsrichter Grimm, der in einem Sondervotum
Aber damit noch nicht genug. In einem zweiten Schritt konkretisierte das Gericht
im "Elfes"-Urteil die Schranken des Art.2 Abs. 1 GG. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist nur innerhalb der Grenzen der "verfassungsmäßigen Ordnung" gewährleistet. Unter ihr versteht das Gericht die Gesamtheit der Rechtsnormen, die formell und materiell verfassungsmäßig sind. Damit ist das Tor zum grenzenlosen Grundrechtshimmel endgültig aufgestoßen und die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts noch einmal erweitert worden. Denn jetzt kann auch jeder Verstoß gegen rein objektives Verfassungsrecht als Verletzung eines subjektiven Grundrechts mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Verstöße beispielsweise gegen die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren sind von nun an rügefähige Grundrechtsverletzungen. Jetzt gibt es also nicht nur ein neues Grundrecht auf Taubenfüttern im Park, sondern auch ein Grundrecht auf den kompetenten Gesetzgeber, Die prozessualen Konsequenzen dieser Grundrechtsdoktrin wären aufzufangen und praktisch zu bewältigen gewesen, wenn die danach (zusätzlich) zu erwartenden Rügen einer Grundrechtsverletzung nur auf die Vielzahl der Gerichte in den einzelnen Rechtsprechungszweigen und Instanzen hätte geleitet werden müssen, die unserer horizontal und vertikal komfortabel ausgebautes Rechtsprechungssystem bereithält. Damit sind wir aber immer noch nicht am Schluß der endlosen Geschichte vom
Wachstum der Grundrechte
Zum einen werden die Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat verstanden. Sie sind - so das Bundesverfassungsgericht
- darüber hinaus eine objektive Wertordnung, ein Wertsystem,
das als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt. Sie beeinflussen, prägen und durchdringen die gesamte Rechtsordnung, auch das Privatrecht. Der Umfang und die Intensität der "Ausstrahlungswirkung" Das ist sie auf dem Felde des straf- und zivilrechtlichen Ehrenschutzes schon längst. Damit sind wir bei dem zweiten Element des "Lüth"-Urteils, der Wechselwirkungslehre, die ihre erhebliche Sprengkraft noch immer erweist.
Sie setzt an bei dem Verhältnis von Meinungsfreiheit und den sie beschränkenden "allgemeinen Gesetzen". Anders sieht es das Bundesverfassungsgericht. Die gegenseitige Beziehung zwischen Meinungsfreiheit und "allgemeinem Gesetz" sei nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die allgemeinen Gesetze
aufzufassen; es finde vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die "allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken
setzten, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müßten.
Damit ist das Rangverhältnis zwischen Grundrecht und Grundrechtsschranke ni
cht nur seiner verfassungsgesetzlichen Eindeutigkeit beraubt; es ist prinzipiell
aufgehoben. In der dialektischen Formel von der "Wechselwirkung" zwischen Grundrecht und Schranke geht jede Berechenbarkeit verloren. Das "allgemeine Gesetz" wie sein Verhältnis zur Meinungsfreiheit läßt das Gericht
in einer Güterabwägung aufgehen, die aus einer "Gesamtanschauung
des Einzelfalles unter Beachtung aller wesentlichen Umstände getroffen werden" soll.
Zwar hat das Gericht wiederholt erklärt, die Schwelle eines Verfassungsverstoßes, den es zu korrigieren habe, sei erst dann erreicht, wenn die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lasse, die auf einer grundsätzlich falschen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht seien. Aber nicht nur die Justiz hat die Preise für diese Grundrechtsdoktrin und Grundrechtspraxis des Bundesverfassungsgerichts zu zahlen. Sie geht vor allem auch zu Lasten des demokratischen Gesetzgebers. Wo das Problem der Grundrechtsschranken auf einen verfassungsrechtlichen Interpretationsvorgang, ja auf die
"richtige" Güterabwägung im Einzelfall reduziert wird, haben
Parlament und Gesetz ihre Rolle bei der Ausgestaltung und Begrenzung der Grundrechte, bei ihrer Koordination und bei der Lösung von Kollisionen und Konflikten ausgespielt. Der Gesetzgeber ist hier nur noch zeitlich in der Vorhand,
aber kompetentiell ohne Vorrang. Es ist klar: Mit diesen Beobachtungen ist die Entwicklung des Verhältnisses
des Bundesverfassungsgerichts zu den drei Staatsgewalten auch nicht annähernd vollständig beschrieben. Indes ist eine umfassende Sammlung des Stoffes und eine systematische Untersuchung des Materials im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich und war daher von vornherein auch nicht beabsichtigt. Natürlich und mit gleichem Recht hätte man auch andere als die hier kritisch betrachteten Phänomene aus der Flut der Erscheinungen hervorheben können
- etwa die Praxis der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Aber daß die Kontrolle des parlamentarischen Gesetzes und die Unterwerfung des demokratischen Gesetzgebers unter diese Kontrolle eine von Grund auf (und nicht erst
durch die Praxis ihrer Ausübung) problematische und heikle Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes ist, liegt auf der Hand, ist im Prinzipiellen oft erörtert worden und wird in concreto dem Gericht immer wieder Nur einiges von dem, was in einem vollständigen Bild nicht fehlen dürfte, kann noch angedeutet werden. Dazu gehört beispielsweise die Beobachtung, wie zögerlich und unwillig der Gesetzgeber - und zu ihm zählt die initiativberechtigte Bundesregierung - seinen Gesetzgebungsaufgaben teilweise nach kommt. Nicht nur, daß er Gesetzgebungsaufträge liegen läßt, die ihm das Bundesverfassungsgericht erteilt hat. Auch dort, wo er von sich aus handeln könnte und müßte, läßt er dem Verfassungsgericht bewußt den Vortritt und wartet darauf, daß es ihm die Hand führt. Mit kräftigen Strichen müßte in das Bild auch die nachdrückliche Stärkung der Exekutive und ihrer demokratischen Dignität eingezeichnet werden, die der Zweite Senat dadurch vorgenommen hat, daß er einen
allumfassenden Parlamentsvorrang abgelehnt und einen alles überwuchernden P
arlamentsvorbehalt abgewehrt hat.
Aufmerksamkeit verdiente schließlich auch die Frage, ob ein auch unter Staatsrechtslehrern sich ausbreitender naiver Aberglaube beim Bundesverfassungsgericht schon Wirkung zeigt - die Vorstellung nämlich, man könne bestimmte
politische Fragen dadurch "entpolitisieren" und sachgerechter lösen, daß man sie den Parlamenten und damit dem "Parteienstreit entzieht und sie vermeintlich unpolitischen, neutralen" Sachverständigen zur
Entscheidung überantwortet. Erste Anzeichen dafür gibt es. Schließlich dürfte ein Blick auf die Selbsteinschätzung des Gerichts und seiner Richter nicht fehlen. Das offene Bekenntnis zu einer "Suprematie des Bundesverfassungsgerichts" und zur Verdrängung des Parlaments aus seiner Führungsrolle, mit dem sich 1952 ein bedeutender Verfassungsrichter ungeniert vernehmen ließ,
Mit einem dieser Akzente sollte die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß einige der umstrittenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus jüngerer Zeit keine "Ausreißer", keine Betriebsunfälle seiner Rechtsprechung sind. Sie haben ihre Ursache nicht nur in der personellen Zusammensetzung und in den Mehrheitskonstellationen eines Senats. Sie sind vielmehr in erheblichem Maße durch bestimmte Rechtsprechungslinien des Gerichts vorgezeichnet. Wenn die beschriebene Entwicklung denn wirklich zu einer Hypertrophie der Grundrechte < P>
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