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Erstveröffentlichung: Heiner Timmermann (Hrsg.), Potsdam 1945 - Konzept, Taktik, Irrtum?, Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 81, Duncker & Humblot, Berlin, 1997, S. 293-303. |
Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens für die Entwicklung des allgemeinen VölkerrechtsA. Die juristische Dimension des Potsdamer AbkommensDer 50. Jahrestag des Abschlusses der Potsdamer Konferenz wirft nicht nur Fragen der historischen und politischen Bedeutung der Ergebnisse der Konferenz auf. Gleichzeitig ist die Frage gestellt, ob dieses inzwischen schon historisch gewordene Datum aus heutiger Sicht in irgendeiner Weise das geltende Völkerrecht beeinflußt hat. Nur dieser Frage gelten die folgenden Aussagen. Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die zutreffende Interpretation des sog. "Potsdamer Abkommens"[1] standen im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes sowie entsprechend gegenläufiger politischer Tendenzen. Ganz konsequent schwankten die Einschätzungen der Potsdamer Konferenz auf beiden Seiten. Während die Beschlüsse von Potsdam im Osten Europas zum zentralen politisch-juristischen Dokument wurden, verloren sie in der westlichen Welt sehr schnell den ursprünglich wohl angenommenen wegweisenden Zukunftsimpuls.Hinzu kam, daß das Potsdamer Abkommen ohnehin weniger als Symbol freiheitlicher Friedensgestaltung in Erinnerung blieb, denn als Mahnmal verheerender Irrtümer und Fehlleistungen vor allem westlicher Politiker, die sich im Banne Stalins dazu herabließen, ihr eigenes traditionelles Freiheitsdenken dem nationalistischen Impuls der Stunde zu opfern. Nur relativ kurze Zeit nach seiner politischen Ablösung sprach Winston Churchill (16. August 1945) im Unterhaus von einer "Tragödie ungeheueren Ausmaßes", die sich hinter dem Eisernen Vorhang abspiele. Und wenig später erklärte er zu den Potsdamer Entscheidungen: "Ich würde ihnen nicht zugestimmt haben".[2] Trotz dieser wenig positiven Einschätzung sollte das Potsdamer Abkommen viele Jahrzehnte lang eine bedeutsame Rolle spielen, nicht als Dokument kalter Machtpolitik im Zeichen eines blutigen Infernos, sondern als Fundament für eine künftige europäische Friedensordnung. Vor allem im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland bildete das Potsdamer Abkommen noch nach Jahrzehnten "die Grundlage, auch die juristische, der Beziehungen zwischen beiden Staaten". Das sowjetische Memorandum vom 21. Nov. 1967 fügte aber sogleich hinzu, dies gelte auch für die Beziehungen "zwischen der BRD und den drei Westmächten."[3] Noch im Völkerrechtslehrbuch der DDR aus dem Jahre 1988 wurde die maßgebliche Rolle des Potsdamer Abkommens auch für die "Entwicklung des Völkerrechts" betont.[4] Die besondere Bedeutung des Potsdamer Abkommens habe darin bestanden, "daß es von der Zusammenarbeit der Alliierten ausging und die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung fixierte".[5] Demgegenüber war die rechtliche Bedeutung des Potsdamer Abkommens im Westen schon sehr früh als weit geringer eingeschätzt worden. Das galt einerseits für die rechtliche Maßgeblichkeit der einzelnen Aussagen des Potsdamer Abkommens selbst. Sie wurden bald als weitgehend "obsolet", von der politischen Entwicklung überholt, angesehen. Für den Stellenwert aus der Sicht der Bundesrepublik wurde die Antwort der Bundesregierung auf die sowjetischen Memoranden vom 12. Okt. und 21. Nov. 1967 nicht nur politisch, sondern auch rechtlich charakteristisch. Am 9.4.1968 stellte die Bundesregierung gegenüber der Sowjetunion fest: "Was die wiederholt geäußerten Auffassungen der sowjetischen Regierung über die Bedeutung der Potsdamer Abmachungen von 1945 betrifft, ist es nach Ansicht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht ihre Sache, sich über Gültigkeit, Auslegung und Geltungsbereich von Vereinbarungen zu äußern, an denen sie nicht beteiligt ist."[6] Diese Stellungnahme führt unmittelbar zu einem der wesentlichen Probleme völkerrechtlicher Art, die auch aus heutiger Sicht den Stellenwert des Potsdamer Abkommens deutlich belasten: Die Geltung von "Verträgen zu Lasten Dritter" ohne Mitwirkung des betroffenen Staates selbst. Bevor dieser Aspekt jedoch weiter behandelt werden kann, stellt sich eine Vorfrage weit grundsätzlicherer Art. Angesichts der konkreten historischen Situation nach dem Ende der Kampfhandlungen könnte es äußerst fragwürdig erscheinen, überhaupt Fragen des geltenden Rechts aufzuwerfen. Die Potsdamer Konferenz hat ohnehin stets mehr Fragen politischer, historischer und militärstrategischer Art aufgeworfen als juristischer oder gar moralischer Art. Der Ost-West-Gegensatz hat gelegentlich das seine getan, das kritische Bewußtsein auf einem niedrigen Stand einzufrieren und weitergehenden Untersuchungen den Boden zu entziehen.[7] Dennoch zwingt allein schon die zeitliche Lokalisierung dazu, die Frage nach den Auswirkungen auf das Völkerrecht zu stellen. Andernfalls würde das Potsdamer Abkommen in einem juristischen Niemandsland angesiedelt und seine Bedeutung auf politisch-historische Bezüge beschränkt. Daß dies unrichtig wäre, belegt die breite juristische Diskussion in den folgenden Jahrzehnten, und es ist kein Zufall, daß das Potsdamer Abkommens selbst noch in den Ost-Verträgen der frühen siebziger Jahre deutliche Spuren hinterlassen hat.[8] Verleiht schon diese Diskussion dem Potsdamer Abkommen eine nicht unerhebliche juristische Dimension, so markiert der Zeitpunkt der Konferenz selbst bereits eine Phase durchaus juristischer Reflexion. Die Beschlüsse selbst thematisieren im VII. Abschnitt die später durchgeführten Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse und stellen fest, daß es sich um eine Angelegenheit von großer Bedeutung handele, "that the trial of those major criminals should begin at the earliest possible date".[9] Diese ausdrückliche Verknüpfung der Potsdamer Konferenz mit
den späteren sog. "Nürnberger Prozessen" hebt einen Zusammenhang
heraus, der häufig übersehen oder unterbewertet wird. Er macht
deutlich, daß das Kriegsende auch die Stunde von Recht und Rechtsprechung
war und eine solide historische Beurteilung ohne diesen Aspekt nicht auskommen
kann. Das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs geht in seiner
Verfahrensordnung und in seiner Unterscheidung zwischen Verbrechen gegen
den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchweg
von juristischen Kategorien aus.[10]
Die Anklagepunkte orientieren sich an dem zur Zeit des Krieges geltenden
Völkerrecht und versuchen, Verstöße der Angeklagten hiergegen
nachzuweisen. So wird die völkergewohnheitsrechtliche Geltung gerade
auch der Haager Landkriegsordnung von 1907 herausgestellt[11]
und nicht etwa, wie von den nationalsozialistischen Angeklagten verlangt,
für obsolet gehalten. Auf diese Weise tritt die merkwürdig erscheinende
Situation ein, daß die Zeit der Potsdamer Konferenz in einem historischen
Zusammenhang erscheint, der in erheblicher Weise von der Beachtung des
internationalen Rechtes geprägt wird. Auch dies legitimiert die völkerrechtliche
Fragestellung. Nur einige Aspekte der rechtlichen Problematik sollen im
folgenden angesprochen werden.
B. Rechtliche EinzelfragenI. Zum VertragstypusDas Völkervertragsrecht zählt zu den Materien, die mit am stärksten im geltenden Völkerrecht verankert und gewohnheitsrechtlich praktiziert sind, und zu diesem Bereich zählen die hier konkret herauszuhebenden Diskussionspunkte. Das Potsdamer Abkommen ging als solches in die Geschichte des Völkerrechts ein, obwohl es an einem eindeutigen Vertragstext fehlte und eine Fülle von Zweifeln an dem Vertragscharakter besteht. Die Tatsache, daß die Potsdamer Konferenzergebnisse in der Form eines "Reports" des Jahres 1945 und in der Form eines "Protokolls" aus dem Jahre 1947 erschienen und zwischen beiden gewisse inhaltliche Differenzen bestehen[12], hat die beteiligten Mächte nicht daran gehindert, von Anfang an von dem Bestehen eines völkerrechtlichen Vertrages auszugehen. Letztlich wurde Wert auf die inhaltliche Übereinstimmung und nicht auf die einheitliche äußere Form gelegt. Die vor allem in Deutschland geäußerten Zweifel an der Rechtsnatur als völkerrechtlicher Vertrag[13] sind zwar nicht ausgeräumt worden, doch hat sich das Institut des völkerrechtlichen Vertrages als dehnbar genug erwiesen, auch schwerwiegende Zweifel aufzufangen.[14] Damit bestätigt sich eine großzügige Vertragspraxis, die später auch in der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 einen Niederschlag gefunden hat.[15]Einen anderen Aspekt betrifft hingegen die Frage der inhaltlichen Bindung. Schon für die rechtliche Position Frankreichs bestehen gewichtige Besonderheiten, da Frankreich Bedenken gegen manche Teile des Protokolls äußerte und eine offizielle Unterzeichnung verweigert.[16] Hingegen gingen die USA, Großbritannien und die UdSSR von ihrer völkerrechtlichen Vertragsbindung aus, wobei vor allem die UdSSR bis zuletzt auch eine Bindung Deutschlands vertrat. Diese wurde auf deutscher Seite aber lediglich von der DDR akzeptiert, während die Bundesregierung das Potsdamer Abkommen von Anfang an als "res inter alios acta" betrachtete und jede rechtliche Bindung ablehnte.[17] Eine ebenso bündige wie einprägsame Formulierung hat kürzlich O. Kimminich für das Potsdamer Abkommen vorgelegt: "Rechtlich ist es nichts anderes als das Schlußkommuniqué einer Konferenz von drei Siegermächten am Ende des Zweiten Weltkriegs, das für Deutschland auch nicht dadurch bindend werden konnte, daß die Konferenzmächte zugleich Besatzungsmächte in Deutschland waren".[18] Für die Eigenart des Potsdamer Abkommens kennzeichnend ist vor allem seine gestufte Fortentwicklung im Blick auf die geregelten Einzelmaterien. Es ist zutreffend darauf hin gewiesen worden, daß von den ursprünglich erfaßten Teilen sehr bald die reinen Übergangsregelungen entfielen, nachdem sie durch Erfüllung oder Zeitablauf erledigt waren. Hingegen wurden die Deutschland betreffenden Bestimmungen etwa über die Form der Besatzung von der UdSSR noch zu einer Zeit für maßgeblich gehalten, als die Westmächte in ihren Zonen bereits eigene Wege gegangen waren und der geplante Rat der Außenminister gescheitert bzw. nicht zustande gekommen war. Das Potsdamer Abkommen wurde sehr bald entsprechend der grundsätzlichen Diskrepanz zwischen West und Ost unterschiedlich interpretiert und verlor dadurch an rechtlicher Durchschlagskraft. Das Festhalten an den Besatzungszielen von "Entmilitarisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung und Dekartellisierung"[19] erwies sich seit Jahrzehnten lediglich noch als Ansammlung von Worthülsen, die den Bezug zur politischen Wirklichkeit längst verloren hatten, was teilweise auch eingeräumt wurde. So wurde das Potsdamer Abkommen im Laufe der Zeit ein auch in seiner
inhaltlichen Bindung und Reichweite äußerst heterogenes Dokument,
dessen Bedeutung fast nur noch in der von sozialistischer Seite hervorgehobenen
Verantwortlichkeit für den Aggressionskrieg lag. In diesem Punkte
zeigt sich zugleich die charakteristische Vermischung rechtlicher und politischer
Vertragsstrukturen, die nach sozialistischer Vorstellung ohnehin eine politische
Dominanz aufwiesen. Auch die stets hervorgehobene politische Allianz der
Siegermächte, die eine spezifische Verantwortung für Deutschland
aufweisen sollte[20],
blieb in der politischen Wertung stehen, doch war der politisch-praktische
Kern schon sehr früh entfernt worden. So zeigt sich das Potsdamer
Abkommen als frühes Beispiel "gemischter" politisch-rechtlicher Verträge
und insofern liegt es nahe, mit J.A. Frowein zwischen politischer
und rechtlicher Wirkung deutlich zu unterscheiden.[21]
II. Verträge zu Lasten DritterBetrachtet man das Potsdamer Abkommen aus der Distanz von 50 Jahren, so hat sich die kriegsbedingt naheliegende Konstruktion eines Vertrages zu Lasten Dritter und die Wirksamkeit einer "res inter alios gesta" nicht durchsetzen können. Die Vorstellung von einer rechtlichen Bindung ohne oder gegen die Zustimmung des betreffenden Drittstaates hat sich vom Grundsatz her rechtlich nicht bestätigt[22], obwohl der Gedanke der Hegemonie auch im Verhältnis der Bundesrepublik zu den drei Westmächten Spuren hinterließ. Selbst das in der Charta der Vereinten Nationen lange Zeit praktizierte Sonderregime für Deutschland im Sinne der Feindstaatenklauseln war schon in den siebziger Jahren an ein sichtbares Ende gelangt. So liegt eine besondere dogmatische Fernwirkung des Potsdamer Abkommens in der Gegenläufigkeit des allgemeinen Völkerrechts in bezug auf Verträge zu Lasten Dritter. Hier hat das Potsdamer Abkommen einen politisch lange bekämpften Gegeneffekt erzielt.III. Der Territorialstatus und die "Legitimierung" von MassendeportationenBestätigt wurde im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 hingegen der im Potsdamer Abkommen vorgesehene vorläufige Territorialstatus Deutschlands. Jedoch erfolgte diese rechtliche Zementierung nicht aufgrund der getroffenen Entscheidungen im Potsdamer Abkommen[23], sondern im Blick auf die danach entwickelte Fakten-Lage.[24] Es mag dahinstehen, wieweit die im Potsdamer Abkommen getroffenen vorläufigen Änderungen des Territorialstatus nationalstaatlichen Interessen der früheren Siegerstaaten noch im Jahre 1990 entgegenkamen.Im XIII. Abschnitt, der überschrieben ist mit "Orderly Transfer of German Populations" wird der sog. "Transfer" von Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bekräftigt ("will have to be undertaken"). Die Vertagspartner "agree that any transfers that take place should be effected in orderly und humane manner". Angesichts der tatsächlichen Vorgänge vor und nach dem Kriegsende konnten diese Passagen als purer Zynismus empfunden werden. Die westlichen Teilnehmer der Konferenz verteidigten sich mit dem Argument, man habe sich nur den bereits geschaffenen Tatsachen gebeugt. Die Literatur weist darauf hin, daß die Westmächte, insbesondere W. Churchill durchaus mäßigend gewirkt hätten, was vor allem im Wortlaut des XIII. Abschnitts zum Ausdruck gekommen sei.[25] In der Tat zeigt eine sorgfältige Nachzeichnung der Konferenz-Vorgänge insgesamt "das Bemühen der westlichen Alliierten, den Umfang der Umsiedlungen auf ein Minimum zu beschränken, den gesamten Vorgang hinauszuzögern und über einen möglichst langen Zeitraum zu erstrecken und vor allen Dingen unter internationaler Kontrolle auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen in geregelter und humaner Weise durchzuführen."[26] Ebenso deutlich war, daß die als "Potsdamer Abkommen" bezeichneten Dokumente keine Vertreibungs-Anordnung bedeuteten oder sogar als entsprechender "Befehl" der drei Regierungschefs aufgefaßt werden könnten.[27] Im Blick auf die Einwirkung der Konferenzergebnisse auf die Entwicklung des Völkerrechts läßt sich aber auch ein anderer Gesichtspunkt herausheben. O. Kimminich hat vorsichtig formuliert: "Ein internationale Konferenz, die vor vollendeten Tatsachen kapituliert, ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Diplomatie".[28] Man wird weitergehen können, da die Kapitulation vor vollendeten Tatsachen durchaus weitere rechtliche Ausstrahlungen hatte. Sie liegen in der grundsätzlichen rechtlichen Einstufung des Vorgangs der Vertreibung und Deportation, im erkennbar geringen Stellenwert der humanitären Grundfrage. Daß das Schicksal der betreffenden Bevölkerung während der Konferenz und in den vorbereitenden Konferenzpapieren kaum eine Rolle spielte, ist bezeichnend für den Tiefstand des Rechtsbewußtseins für den damaligen Zeitpunkt. Aber gerade das Schweigen der führenden Staatsmänner zu elementaren Fragen der menschlichen Existenz wirkte trotz aller Sondersituationen am Ende des Krieges im Sinne einer Vorformung späterer rechtlicher Entwicklungen. Dabei mag es zunächst tröstlich sein, daß nach 1945 eine Gegenentwicklung entstand, die das Vertreibungsverbot durchaus stärkte, doch war allein die historische Tatsache des Übergewichts territorialer über personale Fragen von prägender Kraft. Das sollte sich nicht unbedingt schon in den unmittelbar folgenden Jahrzehnten zeigen, sondern kam mit historischer "Verspätung" etwa im Jugoslawien-Konflikt zur Geltung, der in seiner kaum faßbaren Verachtung von Menschenleben[29] eine durchaus historische Antwort auf Vorgänge am Ende des Zweiten Weltkrieges gab. Denn im Hinblick auf die im Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz bereits erfolgten "wilden" Vertreibungen stellt der Art. XIII zwar keine Rechtfertigung dar, sondern die rechtliche Hinnahme von Fakten - zum Teil in einem beredten Schweigen. Für die nach der Potsdamer Konferenz erfolgten Massendeportationen lieferte es zwar keine ausdrücklich rechtliche, politisch dafür aber eine um so effektivere Grundlage. Denn die Vorgänge der Vertreibung waren mit einer in dieser Dimension kaum bekannten Massentötung von Menschen verbunden, die keineswegs mit "verständlicher menschlicher Reaktion" der Opfer Hitlers, sondern weit häufiger auch mit politischem Kalkül verbunden war. Nicht selten wurden historische Rechnungen beglichen und politisch schlicht machtorientierte Geländegewinne markiert. Die Zahl allein der deutschen Vertriebenen und Deportierten beläuft sich auf 14 bis 15 Millionen Menschen, oft Frauen, Kinder oder alte Menschen. Fest steht, daß im Rahmen der Vertreibung ca. 2 bis 2,5 Millionen Menschen umkamen.[30] Diese Opfer der Zivilbevölkerung kennzeichneten einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und einen Tiefpunkt der Entwicklung der Staatenpraxis. So hat das Potsdamer Abkommen unbegreiflicherweise dazu beigetragen, Massendeportationen und Massentötungen mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit zu versehen, auch wenn dies einer exakten juristischen Bestandsaufnahme gerade nicht entspricht. Dies hatte Auswirkungen unmittelbar auf die Beurteilung auch der Verantwortlichen.
Denn zu diesen zählten führende Politiker, wie der tschechoslowakische
Exilpräsident Eduard Benesch, der die frühen "ethnischen
Säuberungen" in seiner Londoner Zeit während seines Exils vom
Grundsatz her anregte und diplomatisch vorbereitete.[31]
Insofern fällt zugleich ein Schatten auch auf diejenigen westlichen
Politiker, die schon im Vorfeld des Kriegsendes das Niveau von Diktaturen
betraten, statt ihrer eigenen demokratisch-humanitären Tradition zu
folgen.
C. Die Fernwirkungen von PotsdamDiese Fragen könnten außer acht bleiben, gingen von dem Konferenzergebnis von Potsdam nicht Fernwirkungen aus, die im Sinne von Präzedenzfällen sogar bis zu den "ethnischen Säuberungen" im früheren Jugoslawien und anderen Weltregionen reichen. Auf diesem Felde hat das Potsdamer Abkommen die Staatenpraxis in eine beklagenswerte Richtung getrieben.Die Annahme bestimmter rechtlicher Fernwirkungen vergleichbarer Art muß notwendig mit äußerster Vorsicht erfolgen. Gefragt werden könnte, ob die Praxis gegenwärtiger bewaffneter Konflikte einschließlich "ethnischer Säuberungen" auf historische Vorläufer angewiesen sei und ob gegenwärtige Exzesse tatsächlich in historischen Ereignissen mitbegründet seien. Eine Antwort läßt sich nur bei einem Blick auf die Eigenart des Völkerrechts finden. Denn dieses ist in hohem Maße auf die Staatenpraxis angewiesen, orientiert sich an ihr und entwickelt nicht selten abstrakte - gewohnheitsrechtliche - Regeln. Aber auch in Fällen, die sich später nicht im Sinne gewohnheitsrechtlicher Regelungen "verdichteten", liefern historische Präzedenzfälle Material für künftiges, aktuelles Staatenverhalten. Insofern wächst den Akteuren weltgeschichtlicher Weichenstellungen eine erhöhte Verantwortung zu, und Nachlässigkeiten der geschichtswissenschaftlichen Aufklärung tragen den Keim zu neuem - künftigem - Unheil in sich. Fernwirkungen gingen vom Potsdamer Abkommen aus der Sicht der Gegenwart schon insoweit aus, als der menschliche Faktor nationalstaatlichen Machtinteressen eindeutig untergeordnet wurde, auch wenn sie in abstrakter Weise dem Frieden dienen sollten. Das Völkerrecht hat sich nur mühsam umorientiert, etwa in der Entwicklung und Beachtung der Menschenrechte. In bezug auf das Staatsterritorium ist es bei seinem nach wie vor dominierenden Gewicht geblieben. Indiz für die retardierende Wirkung des Potsdamer Konferenzergebnisses auf die Entwicklung des Völkerrechts ist die nach wie vor bestehende Schwierigkeit geblieben, die gewaltsame Trennung von Staatsterritorium und Bevölkerung rechtlich angemessen zu umschreiben. Für den Vorgang der Vertreibung fehlt noch immer eine angemessene terminologische Ausdrucksform. Begriffe wie "Umsiedlung" oder "Bevölkerungstransfer" verschleiern eher die inhaltliche Nähe zur Deportation und der ihr eigenen Verbindung zu staatlichem Zwang. Die feinsinnige Unterscheidung zwischen (freiwilliger) Flucht einerseits, zwangsweiser "Vertreibung" oder unmittelbarer technischer Wegführung durch Deportation wurde ausgerechnet von J. Stalin ad absurdum geführt, als er auf der 11. Vollsitzung vom 31. Juli 1945 während der Potsdamer Konferenz gegen einen Beschluß zur Einstellung der "Umsiedlungen" argumentierte: "Ich fürchte jedoch, daß ein solcher Beschluß keine ernsthaften Ergebnisse zeitigt. Es handelt sich nicht darum, daß man die Deutschen einfach nimmt und aus diesen Ländern herausjagt. So einfach ist die Sache nicht. Aber man versetzt sie in eine solche Lage, daß es für sie besser ist, aus diesem Gebiet fortzugehen. Formal können die Tschechen und Polen sagen, daß es für die Deutschen kein Verbot gibt, dort zu leben, aber die Deutschen werden in Wirklichkeit in eine solche Lage versetzt, daß es für sie unmöglich ist, dort zu leben. Ich fürchte, wenn wir einen solchen Beschluß annehmen, wird er keinerlei ernsthafte Ergebnisse zeitigen."[32] Die vom Potsdamer Abkommen im XIII. Abschnitt dokumentierte Hinnahme der Praxis von Massendeportationen war von verheerender politisch-moralischer Auswirkung und hat es insgesamt entwertet. Besonders schwerwiegend war die Behandlung der damit verbundenen Praxis des Territorialerwerbs. In bezug auf das deutsche Staatsterritorium waren 8 bis 9 Millionen deutsche Staatsbürger betroffen, von denen ca. 7 Mio. vertrieben wurden. Die Idee der Westverschiebung Polens erhielt, verbunden mit der Massendeportation der Menschen, geradezu apokalyptische Züge. Daß die Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 rechtlich nunmehr erledigt wurde, nimmt der Art und Weise der Territorialveränderung im Jahre 1945 ff. nichts von ihrer Völkerrechtswidrigkeit. Das gesamte Völkerrecht wurde von der Staatenpraxis der Potsdamer Konferenz in seiner Entwicklung zurückgeworfen auf den Zustand einer machtpolitisch zugelassenen Barbarei. Es ist in höchstem Maße erfreulich, daß nunmehr geregelte Beziehungen zu Polen geschaffen wurden, die nicht mit Territorialforderungen belastet sind. Wie es scheint, konnte der mit dem Potsdamer Abkommen erreichte Tiefpunkt der staatlichen Beziehungen überwunden werden. In bezug auf die Vorgänge im früheren Jugoslawien und in vergleichbaren Fällen der Gegenwart führt die historisch-politisch- rechtliche Spur allerdings zum dem Potsdamer Abkommen des Jahres 1945. Damit ist zugleich eine Beurteilung des gesamten Konferenzergebnisses
ausgesprochen. Denn so sehr die Vertragspartner ursprünglich eine
Grundlage für eine künftige Friedensordnung beabsichtigt haben
mochten, so überaus fragwürdig wurde das Dokument verbunden mit
der zwar fehlenden rechtlichen, aber um so wirksameren politisch fortwirkenden
Ermöglichung einer überaus verwerflichen Staatenpraxis nach dem
Ende der Kampfhandlungen. Insofern ist es zu begrüßen, daß
das Potsdamer Abkommen heute im wesentlichen nur noch von historischer,
nicht mehr von aktuell juristischer Bedeutung ist.
[1] Aus der reichhaltigen Literatur vgl. lediglich F. Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung, 4. Aufl. 1969; J. Hacker, Sowjetunion und DDR zum Potsdamer Abkommen, 1968; E. Deuerlein, Deklamation oder Ersatzfrieden?, Die Konferenz von Potsdam 1945, 1970; A. Fischer u.a., Potsdam und die deutsche Frage, 1970; E. Deuerlein, Potsdam 1945. Ende und Anfang, 1970; F. Klein, B. Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, I. Teil, 1970; B. Meissner, Th. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, II. Teil, 1987; A.M. de Zayas, Nemesis at Potsdam, 2. Aufl., 1979; ausf. weitere Literaturangaben bei O. Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund der Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in Bayern, 1993, S. 31 ff., 235 ff. [2]
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