Philip H. Schneider
41. Kolloquium der südwestdeutschen und schweizerischen Kriminologischen Institute vom 1 bis zum 3. Juli 2005 in Kirkel (Saar)
Vom 1.-3. Juli fand unter der Gesamtleitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Heike
Jung im Berufsbildungszentrum der Arbeitskammer in Kirkel, einem
beschaulich im Wald gelegenen, aber mit modernster Technik ausgestatteten
Tagungsort, das 41. Kolloquium der südwestdeutschen und schweizerischen
Kriminologischen Institute statt.(1)
Die Veranstaltung wird traditionell vom wissenschaftlichen Nachwuchs, also
den Mitarbeitern getragen - sämtliche Vorträge stammten aus diesem Kreis.
Jedoch beteiligten sich auch die anwesenden Professoren rege und fruchtbar
an den zu den einzelnen Vorträgen geführten Diskussion. Der fast
fünfzigköpfige Teilnehmerkreis war, was die Fachdisziplin anbetrifft,
durchaus heterogen: Sozialwissenschaftler, Psychologen, Juristen und
Historiker waren vertreten. Die grenzüberschreitende Perspektive war auch
insoweit gewährleistet, als ein Maître de conférence von der Universität
Metz vertreten war.
Nachdem am Freitag nach dem gemeinsamen Abendessen das Kolloquium mit dem
traditionellen Fass Bier, gestiftet vom Landrat des Saar-Pfalz-Kreises,
eröffnet wurde, stand der Samstag ganz im Zeichen zahlreicher interessanter
Vorträge und Diskussionen:
Den Anfang machte der Historiker Dr. Rainer Möhler von der Universität des
Saarlandes. Er referierte über "Kriminologisch/kriminalpolitische
Positionen als Indikator für den Zustand der politischen Kultur am Beispiel
der Weimarer Republik" und stellte dabei fest, dass die Kriminalpolitik als
feiner Seismograph politischer Veränderung geeignet sei. Möhler ging auch
auf einzelne kriminalpolitische Phänomene dieser Zeit ein, wie die
Forderung nach Individualisierung der Strafrechtspflege, die Entdeckung der
Grenzen der Erziehbarkeit und eugenische Erwägungen, selbst z.B. bei Gustav
Radbruch (die Eugenik war zu dieser Zeit noch nicht ausschließlich im
rechten Spektrum verortet).
Die Saarbrücker Juristin Kathrin Nitschmann, wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie
und Strafrechtsvergleichung von Prof. Dr. Dr. h.c. Heike Jung, berichtete
anschließend in ihrem Vortrag "Foucault, Bourdieu und die Folgen" über den
gegenwärtigen Stand der französischen Kriminologie. Dabei warf sie die
Frage auf, ob man von einer eigenständigen frankophonen Kriminologie
sprechen könne; dafür spräche, dass sich die französische durchaus in
einigen Punkten von der deutschen Kriminologie unterscheide und in Richtung
amerikanische tendiere. Vor diesem Hintergrund werde von dem französischen
Traditionalisten Gassin der Vorwurf einer "wahrhaften Identitätskrise der
französischen Kriminologie" erhoben.
Foucaults Werk "Überwachen und Strafen" fand einen zentralen Platz in
Nitschmanns Erwägungen, welche Anlass zu reger Diskussion gaben - es
stellte sich die Frage, ob der mangelnde praktische Einfluss der
Foucault´schen und Bourdieu´schen Positionen auf deren Entrücktheit
zurückzuführen sei.
Nach dem Mittagessen stellte Peter Münster, wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Lehrstuhl für
Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug und Strafrecht von Prof. Dr.
Dr. Michael Bock in Mainz, John Braithwaites Theorie des Reintegrative
Shaming und deren Konsequenzen für die Kriminalprävention dar. Braithwaites
Konzept geht, vereinfacht ausgedrückt, dahin, dass erreicht werde, dass der
Täter über einen Prozess des shaming wieder in die Gesellschaft
reintegriert werde. Ein Musterbeispiel sei das "Family-Group-Conferencing"
nach neuseeländischem Vorbild, ein auch in seiner Emotionalität sehr
zeremonielles Verfahren, bei dem der Delinquent gemeinsam mit seiner
Familie auf das Opfer und seine Familie treffe, mit ihr eventuell sogar
gemeinsam singe, sein Bedauern über die Tat ausdrücke und schließlich
Vergebung erfahre.
Die vorgestellte Theorie war seitens des Auditoriums einiger Kritik
ausgesetzt: Sie sei nur in einem funktionierenden und stützenden sozialen
Umfeld praktikabel - und gerade straffällige Jugendliche kämen häufiger aus
schwer gestörten Familien, mit denen das Shaming nicht möglich sei.
Außerdem sei es missbrauchsanfällig und emotional überladen - das formelle
Gerichtsverfahren hingegen habe den Vorteil der Objektivität, und es zeige
auch Wirkung.
Gefolgt wurde Münster von Dr. Hauke Brettel, Jurist, Arzt und ebenfalls
Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Bock, welcher über angewandte
Kriminologie in der gegenwärtigen Praxis der Kriminalprognose referierte.
Dabei stellte er HCR-20 und SVR-20, beides Verfahren zur Vorhersage von
Gewalttaten bzw. Sexualdelikten, vor.
In der anschließenden Diskussion stellte sich als eines der
Grundsatzprobleme der Vorhersage das Risiko der "false positives" dar:
Prognostiker würden einen Täter, bei dem sie sich nicht sicher seien,
lieber für gefährlich als für ungefährlich erklären, denn im Falle eines
Rückfalles befänden sie sich sonst in Erklärungsnot. Ein weiteres Problem
stelle auch die Person des Prognostikers selbst dar - die Verfahren setzten
Erfahrungswissen voraus, man könne jedoch nie wissen, ob dieses auch
wirklich vorhanden sei. Auch bekomme der Prognostiker selten Rückmeldung,
ob er im Recht oder im Unrecht gewesen sei und könne sich folglich nicht
selbst validieren.
Den "Mainzer Nachmittag" komplettierte Rechtsanwalt Christoph Schallert,
der über ein Beispiel für angewandte Kriminologie, nämlich das seit 5
Jahren in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden durchgeführte und von ihm
maßgeblich mitgestaltete Normakzeptanz-Training und Wohngruppenkonzept
"Kontrakt" berichtete. Damit wolle man unter anderem dem Problem der
"Rundumversorgung" des Gefangenen durch die Beamten begegnen: Er werde
geweckt, zu Aktivitäten abgeholt, bekomme das Essen gebracht, könne seine
Briefe einfach beim Beamten abgeben - und verlerne dadurch seine
Selbständigkeit.
Ein weiterer Grundsatz des Programms sei der der Wertschätzung: Der
Gefangene solle nicht nur bei Verstössen sanktioniert werden, sondern auch
Bonuspunkte sammeln können.
In der Diskussion stellten sich nicht zuletzt die Rahmenbedingungen in der
JVA als problematisch dar: Es herrsche - insoweit eine Anstalt mit
Ausnahmecharakter - fast ein Überangebot an Programm. Es sei schwierig,
Termine zu koordinieren und auch der Wohngruppenvollzug gestalte sich
unbefriedigend, da fast alle Gefangenen tagsüber gar nicht da seien; sie
befänden sich bei der Arbeit, beim Sport oder bei der Therapie, eine
Wohngruppe bildeten sie de facto daher nur von 19 bis 21.30 Uhr.
Den Höhepunkt des Samstag Abend bildete sicher die sehr
humorvoll/hintergründige Lesung selbstkomponierter, scharfsinniger und
kritischer Texte von Prof. Heinz Müller-Dietz.
Am Sonntag referierte Vera Warnking aus Trier über ihr Promotionsvorhaben
zum Thema "Beweisverwertungsverbote im Konflikt von nationaler und
europäischer Rechtsprechung". Nachdem sie kurz die Bedeutung der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) dargestellt und die
Ausgangspunkte des EGMR zu der Problematik der Beweisverwertungsverbote
aufgezeigt hatte, ging sie anhand von drei Beispielen auf die
Rechtsprechung des EGMR zu den Beweisverwertungsverboten ein (Teixeira de
Castro ./. Portugal vom 9.6.1998, Khan ./. Vereinigtes Königreich vom
12.5.2000 und Allan ./. Vereinigtes Königreich vom 5.11.2002).
In der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass die Entscheidungen des
EGMR in den Mitgliedsstaaten zwar prinzipiell auf Akzeptanz stießen, dass
jedoch die tatsächliche Umsetzung der Entscheidungen oft überlang auf sich
warten ließe.
Der letzte Teil der Veranstaltung war der Wahlfachgruppe Kriminologie
gewidmet, die leider nicht mehr an allen juristischen Fakultäten angeboten
wird. Es wurde die Situation der Kriminologie in Saarbrücken(2),
Heidelberg, Tübingen, Konstanz, Mainz und Trier angesprochen. Dort, wo die
Wahlfachgruppe noch existiere, zeichne sich insgesamt eine bedauernswerte
Reduzierung des Stoffes ab. Unklar sei in Baden-Württemberg das Schicksal
der Seminare, da diese integraler Bestandteil des Examens geworden sei.
Einen interessanten Eindruck gewährte auch Herr Walther, der die Situation
in Nancy und Metz darstellte: Während in Nancy sogar ein Aufbaustudiengang
"Kriminologie und Strafvollzug" existiere, behandle Metz das Thema
Kriminologie eher stiefmütterlich.
Insgesamt boten die dargebotenen Themen eine reizvolle Mischung aus Theorie
und Praxis, welche zu reger Diskussion anregte und die Veranstaltung zu
einem vollen Erfolg werden ließ. D ie verschiedenen Vorträge und die auf
sie folgenden Diskussionen fügten sich wie die Steine eines Mosaiks
zusammen und bildeten ein für viele - vor allem erstmalige - Teilnehmer
verblüffendes Gesamtbild der praktischen Auswirkungen der Ergebnisse der
Kriminologie als Wissenschaft. Zu danken ist der Vereinigung der Freunde
der Universität des Saarlandes e.V. dafür, dass sie den jungen
Kriminologinnen und Kriminologen durch ihre finanzielle Unterstützung die
Teilnahme an der Veranstaltung erleichtert hat.
Das 42. Kolloquium der südwestdeutschen und schweizerischen
Kriminologischen Institute wird im Sommer 2006 in Heidelberg stattfinden.
Fußnoten
(1) Einen Ausführlichen Rückblick auf die vierzig vorhergehenden Kolloquien
findet sich bei Kaiser, Vierzig Jahre gemeinsame Kolloquien
südwestdeutscher und schweizerischer Institutionen, MschrKrim 2004, 273.
(2) siehe dazu auch - mit gewissen ironisierenden Untertönen - Müller-Dietz, Fünfzig Jahre Institut für Kriminologie der Universität des
Saarlandes - ein Nekrolog ?, MschrKrim 2004, 361.
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